MIRCO KANTHAK
CV/CONTACT


03/11/2025
Vor ca. vier Stunden habe ich den Zug betreten, mich auf einen Platz gesetzt, das Ipad herausgeholt und seit dem nicht mehr hochgeschaut. Lese Zeile um Zeile während neben mir die Dunkelheit vorbeizieht. Bei nacht getränkten Fenstern macht es ohnehin keinen Unterschied, würde ich dem Ausblick Aufmerksamkeit schenken. Die spezifische Zugstrecke hat keinen Einfluss auf mein Raumempfinden. Genauso gut könnten wir an Ort und Stelle 3,9 Stunden künstlich herumschaukeln, fadenscheinige Erklärungen über den momentanen Fahrtverlauf abspielen - jemand hat ins Bordbistro gebrochen - nur um dann innerhalb der letzten Minute, die eigentliche Fahrtstrecke zurückzulegen.

Ich sitz in einem beleuchteten Kasten, der sich durch ein verschluckendes Nichts bewegt. Keine Bäume, kein Horizont, kein einziges Wesen begegnet meinem Blick, auch wenn ich mich noch sehr danach verzehre.

Einziger Anhaltspunkt für das tatsächliche Fortbewegen sind die verschiedenen Statisten, die verschwinden, weil sie angeblich aussteigen müssen, weil ihr designierter Reiseort erreicht wurde, und neu dazu kommende, die ihre Zeit in der Kulisse bereits abgesessen haben. Wieder mal spielt nur das subjektive Empfinden eine Rolle.
VENEDIG
Morgens besteht mein Frühstück aus bitterem Espresso und Zigarettenrauch. Während mich Menschenmengen durch die Stadt leiten, vernehme ich zwischen dem Englischen nur wenige Fetzen Italienisch. Dem Lärm entfliehend, halte ich am Kanal und lasse meinen Blick im petrol gefärbten Wasser ruhen. Die Gondolieri wirbeln Fahrtwellen auf, die gegen die Kanalmauer klatschen und mir auf die Schuhe spritzen.

Abends nage ich Fisch runter zu den Gräten, bis sie mir im Halse stecken bleiben. Karaffen voller gepresster Trauben schütte ich in mich hinein, um wieder atmen zu können. Einen Moment lang kehrt Ruhe ein.

Nachts sind die einzigen Begleiter mitleidige Katzenaugen, die mir dabei zuschauen, wie ich meinen Kopf in die Höhe recke und Paläste betrachte, derer Namen ich nicht aussprechen kann. Ich bin und bleibe eine Aneinanderreihung von Wurmfortsätzen, die sich durch das Leben schlängeln.

Dann beginnt das Taumeln erneut, der Horizont schwankt und ich muss meine Augen schließen. Blind finde ich ins Bett und Magenkrämpfe begleiten mich in den Schlaf. Ich wandere auf einer rechteckigen Insel, in deren Erde tausende Schädel stecken. Jeder meiner Schritte wird von dem Geräusche zerbrechender Knochen begleitet. Froschleiber regnen auf mich herab und ich weiß, dass ich hier mein Ende finden werde. Schweißgebadet öffne ich meine Augen und greife ins Wasser.